The Undeserving Rich - Unverdienter Reichtum
Paul Krugman, NYT , 19. Januar 2014
( Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Tober )
Die wachsende Ungleichheit in Amerika ist krasse Realität. Seit Ende der 1970er Jahre sind
die Realeinkommen der unteren Hälfte der Beschäftigten gleich geblieben oder sogar
gesunken, während die Einkünfte des obersten Prozents sich vervierfacht haben (und die des
obersten 0,1 Prozents noch bedeutend mehr gestiegen sind). Während wir eine ernsthafte
Diskussion darüber führen können und sollten, was angesichts dieser Situation zu tun ist,
sollte eine schlichte Tatsache nicht zur Debatte stehen - nämlich, dass der amerikanische
Kapitalismus in seiner derzeitigen Form die Grundlagen der Mittelklassengesellschaft
zerstört.
Aber natürlich wird darüber debattiert. Zum Teil zeigt sich hier etwas, das Sinclair Lewis
bekanntermaßen so ausgedrückt hat: Es ist schwer, einen Mann dazu zu bringen, etwas zu
verstehen, wenn sein Einkommen davon abhängt, es nicht zu verstehen. Aber ich glaube, hier
zeigt sich auch die Abneigung gegenüber den Schlussfolgerungen aus Zahlen, die ja fast wie
eine Aufforderung zum Klassenkampf aussehen - oder auch, wenn man so will, wie der
Beweis dafür, dass der Klassenkampf schon voll im Gange ist, mit den Plutokraten in der
Offensive.
Was folgt, ist eine entschlossene Kampagne statistischer Vernebelung. In ihrer plumpesten
Form kommt sie fast unverblümter Verfälschung gleich; in ihrer differenzierteren Form
bemüht sie sich trickreich, das zu verbreiten, was ich den Mythos des verdienten Reichtums
nenne.
Um ein Beispiel einer wirklichen Verfälschung zu finden, muss man sich nur eine kürzlich
erschienene Kolumne von Bret Stephens im Wall Street Journal ansehen, der erst Präsident
Obama (fälschlicherweise) beschuldigt, einen faktischen Fehler begangen zu haben, um dann
zu behaupten, die wachsende Ungleichheit sei keine so große Sache, weil ja alle große
Gewinne machten. Schließlich sei das Einkommen des unteren Fünftels der amerikanischen
Bevölkerung seit 1979 um 186 Prozent gestiegen!
Wenn Ihnen das falsch vorkommt, dann sollte es das auch: Das ist eine nominale Zahl, die die
Inflation nicht berücksichtigt. Die inflationsbereinigte Zahl ist in der gleichen Aufstellung des
Census Bureau (US Statistikbehörde) zu finden; Sie zeigt, dass die Einkommen des unteren
Fünftels tatsächlich gesunken sind. Oh, und um das kurz festzuhalten, dieser grundlegende
Fehler ist bis jetzt auf der Website des Wall Street Journal nicht berichtigt worden.
Gut, so sieht also plumpe Vernebelung aus. Wie steht es mit der differenzierteren Version?
Ich habe schon früher darauf hingewiesen, dass die Konservativen anscheinend auf die
Vorstellung fixiert sind, Armut sei im Grunde genommen das Ergebnis von
Charakterschwäche bei den Armen. Daran mag früher vielleicht ein Körnchen Wahrheit
gewesen sein, aber in den letzten drei Jahrzehnten und darüber hinaus war die größte
Schwierigkeit für die Armen der Mangel an Jobs mit annehmbarer Bezahlung. Und doch lebt
der Mythos der unwürdigen Armen weiter fort, genauso wie der Gegenmythos, der der
Reichen, die verdientermaßen reich sind.
So geht die Geschichte: Amerikas Reiche sind deshalb reich, weil sie die richtige Wahl in
ihrer Lebensführung getroffen haben. Sie haben sich um gute Ausbildungen gekümmert,
haben geheiratet und sind verheiratet geblieben, und so fort. Reichtum ist also im Grunde
genommen eine Belohnung für das Befolgen viktorianischer Tugenden.
Was an dieser Geschichte nicht stimmt? Selbst nach ihren eigenen Maßstäben setzt sie
Chancen voraus, die es nicht gibt. Wie sollen beispielsweise die Kinder der Armen oder auch
der Arbeiterschaft zu einer guten Ausbildung kommen in einer Zeit schwindender
Unterstützung für die öffentlichen Universitäten und steigender Studiengebühren dort? Auchgesellschaftliche Indikatoren wie Stabilität in der Familie sind weitgehend wirtschaftlich
bedingte Phänomene: Nichts schadet Familienwerten so sehr wie der Mangel an
Beschäftigungsmöglichkeiten.
Aber das Wichtigste an diesem Mythos ist, dass er die Gewinner der wachsenden
Ungleichheit falsch darstellt. Im Büro arbeitenden Fachleuten, selbst den Doppelverdienern
unter ihnen, geht es gerade mal okay. Die wirklichen Gewinner sind eine viel kleinere
Gruppe. Die Occupy-Bewegung machte den Begriff des “1 Prozent” bekannt, und das ist ein
gutes Kürzel für die aufsteigende Elite, auch wenn es eher zu viele Leute einschließt: Die
meisten Gewinne des obersten Prozents fließen tatsächlich an eine noch viel kleinere Elite,
das oberste 0,1 Prozent.
Und wer sind diese glücklichen Wenigen? Hauptsächlich Führungskräfte verschiedenster Art,
besonders, wenngleich nicht ausschließlich, im Finanzsektor. Man kann darüber streiten, ob
diese Leute es verdienen, so gut bezahlt zu werden, aber eins ist sicher: Dorthin, wo sie jetzt
sind, sind sie nicht nur dadurch gekommen, dass sie klug, anständig und besonnen waren.
Wie kann also der Mythos des verdienten Reichtums aufrecht erhalten bleiben? Vor allem
durch eine Strategie der Verzerrung durch Verwässerung. Fast nie erlebt man, dass die
Verteidiger der Ungleichheit bereit sind, über das 1 Prozent oder gar über die wirklichen
Gewinner zu reden. Stattdessen sprechen sie von den obersten 20 Prozent oder bestenfalls den
obersten 5 Prozent. Das mag nach einer harmlosen Wahl klingen, ist es aber nicht, weil hier
Anwaltspaare mit den Wölfen der Wall Street zusammengewürfelt werden. Der DiCaprio-
Film dieses Namens ist übrigens enorm populär bei den Typen der Finanzwelt, die den
Titelhelden beklatschen - noch ein Hinweis auf die Gegebenheiten unseres neuen Goldenen
Zeitalters.
Ich sage es noch einmal, ich weiß, dass einige Leute, und nicht alle davon sind im Sold der
Plutokratie, sich angesichts dieser Tatsachen unwohl fühlen und lieber ein anderes Bild
zeichnen würden. Doch auch wenn die Fakten eine wohlbekannte populistische Ausrichtung
haben, es sind nun mal die Fakten - und denen müssen wir uns stellen.
http://www.nachdenkseiten.de/upload/pdf/140121_krugman.pdf