Im Land des Vergessens
Beschäftigen wir uns mit Geschichte! Nichts ist subversiver, nichts ärgert die Mächtigen mehr. Wenn ich daran denke, wie wenig heute unsere Politiker von Geschichte verstehen, wird mir angst und bang.
In seinem düsteren Buch «1984» hat der englische Schriftsteller George Orwell verschiedene Dinge erfunden, die nur wenig übertrieben waren, aber den Charakter einer totalitären Gesellschaft treffend kennzeichneten: Newspeak zum Beispiel, jene Sprache, wo aus politischen Motiven die Realität umgebogen wird. Aus dem Kriegsministerium wurde das Friedensministerium (Ministry of Peace), auch wenn es dauernd Krieg führte, aus dem Justiz– und Terrorapparat, wo man Menschen im Akkord folterte, das Ministerium der Liebe, aus dem Propagandaministerium machte das Regime das Ministerium der Wahrheit, das Ministry of Truth.
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Eine wichtige Aufgabe dieser Abteilung war es auch, sogenannte Unpersonen zum Verschwinden zu bringen. Es reichte nicht, dass die Diktatur diese Unpersonen umgebracht hatte, nein, sie mussten auch aus dem Gedächtnis der Nation getilgt werden. Zu diesem Zweck waren unzählige Beamten mit nichts anderem beschäftigt, als die Vergangenheit umzuschreiben, damit keine Spuren von diesen Unpersonen in den Archiven, den Büchern oder den alten Zeitungsartikeln auffindbar waren. Ganze Jahrgänge von Zeitungen wurden frisiert, historische Persönlichkeiten geschaffen, die es nie gegeben hatte, um die realen, unerwünschten zu verdrängen. Wenn ein Ereignis in der Vergangenheit die Gegenwart störte oder die Zukunft belastete, wurde es einfach wegradiert. Es hatte doch nie stattgefunden. Es war ein «Mythos». Die Wahrheitsbeamten dachten sich stattdessen eine andere Vergangenheit aus, die mehr den Bedürfnissen der Gegenwart entsprach. Dem totalitären Regime in Orwells fiktivem Roman «1984» war klar, warum es das tat: Wer die eigene Geschichte nicht mehr kennt, kann auch in der Gegenwart keinen Widerstand mehr leisten. Geschichte ist nicht nur eine Beschäftigung, die die natürliche Neugierde für die Vergangenheit befriedigt: Geschichte ist politisch im höchsten Grad, weil es den herrschenden Kreisen der Gegenwart immer ein Gegenbild entgegenstellt. Es gab Alternativen zur Jetztzeit, warum nicht auch in der Zukunft? Diese Erkenntnis allein ist subversiv. Wer die Menschen daher entmündigen will, wer ihnen die eigene Geschichte nimmt, versklavt sie. Das war auch die Lehre von George Orwell.
Marignano ist überall
An Orwell fühle ich mich erinnert, wenn ich an die Diskussion um die Geschichte der Neutralitätspolitik denke, die sich in den vergangenen Monaten entfaltet hat. Es ging um Marignano und die Folgen. Bevor es zu dieser Debatte gekommen war, hatte eine Gruppe von Historikern und Publizisten – die meisten zählten zur Linken – schon vor einem Jahr versucht, diese Debatte zu vereiteln: Unter dem Titel: «Hurra, verloren! 499 Jahre Marignano», schrieben die Autoren ein Jahr vor dem Jubiläum: «2015 jährt sich die Schlacht von Marignano zum 500. Mal. Wir meinen, das sei kein Grund zum Feiern. Weder wurde mit der Niederlage des zerstrittenen Staatenbundes der Mythos der Neutralität begründet, noch bietet sich das grössenwahnsinnige Gemetzel von damals an, heute damit Wahlkampf zu führen.»
Ob «Hurra, verloren!» die richtige Losung ist, um eine Schlacht zu beschreiben, bei der an die achtzehntausend junge Männer umgekommen sind, muss offen bleiben. Was die Autoren ein Jahr vorher präventiv zu unterbinden versuchten, eine Debatte über diese Schlacht am Ende des Mittelalters, scheiterte jedoch. Orwells Schreckensregime hat sich noch nicht durchgesetzt in diesem Land – auch wenn es offenbar auf ein paar Anhänger zählen kann. Gewiss, diese Virtuosen des Beschweigens sind eine kleine Minderheit. Und doch sitzt Orwell überall. Wenn ich daran denke, wie wenig heute unsere Politiker von Geschichte verstehen, wird mir angst und bang. Historisches Bewusstsein hat schon jeden guten Staatsmann ausgezeichnet. Wer keine Ahnung hat, was früher gescheitert ist, wird den Fehler wiederholen.
Nehmen wir die EU und ihre Funktionäre: Es hilft, wenn man sich mit den vielen, vielen Versuchen beschäftigt, Europa in ein einziges politisches Gebilde zu pressen, die allesamt ohne Erfolg blieben. Den römischen Cäsaren ist es zum letzten Mal gelungen. Das ist zweitausend Jahre her. Es hilft auch, wenn man sich die Geschichte der Habsburger vor Augen führt: die Schöpfer eines fantastischen, grossen, multikulturellen Reiches, das lange überdauerte, aber im Grunde immer ineffizient blieb – und sehr undemokratisch. Deshalb ging es unter, als Preussen, dieses tüchtige, protestantische, ziemlich homogene Land, aufstieg. Was die Habsburger uns hinterliessen: auf dem Balkan, in Osteuropa, in Süditalien ist ausserdem nicht erfreulich.
Denken wir an die schweizerische Neutralität. In der Debatte über Marignano fällt auf, wie sehr sich die Kritiker der sogenannten Mythen der Schweizer Geschichte scheuen, unserem Land eine ältere Geschichte zuzugestehen. 1848 wäre ihnen als Gründungsdatum am liebsten, vielleicht, weil sie meinen, kluge, liberale Leute hätten damals ein nigelnagelneues Land auf dem Reissbrett entworfen. Sie waren klug, sie waren liberal – aber das Land gab es schon. Es erhielt nur eine neue, hervorragende Verfassung, eine Errungenschaft, auf die wir noch heute stolz sind. Das einzige Land auf dem Kontinent, das sich demokratisch konstituierte!
1815 wäre diesen Mythenskeptikern am liebsten als Termin für den Beginn schweizerischer Neutralitätspolitik. Wahrscheinlich, weil sie dann den Eindruck erwecken können: Wir verdankten diese intelligente Praxis vor allem den Grossmächten, den europäischen, also dem Ausland. Weil die Grossmächte einen Pufferstaat inmitten von Europa wollten, so heisst es dann, haben sie uns, zuvorkommend wie das europäische Ausland ja immer ist, die Neutralität verordnet. Dass die Schweizer Gesandten nach Wien gefahren waren und vor allem diese Neutralität festschreiben lassen wollten, wird dann gerne ausgeblendet. Dass die Schweiz gar vor 1815 schon neutral gewesen – und berühmt dafür war: Man verschweigt es. Oder weiss es nicht. Womit man umso leichter davonkommt, wenn das Publikum keine Ahnung mehr von Geschichte hat. Wofür unsere Bildungspolitiker ja sorgen. Schweizer Geschichte in unseren Schulen: eine Chronologie des Grauens.
Je mehr ich mich mit Geschichte beschäftige, desto öfter bin ich überrascht, wie alt die meisten Dinge doch sind, oder besser: um wie viel älter sie sind, als man denkt. Was man mit dieser Erkenntnis anfängt, ist jedem selber überlassen. Politikern aber sollte sie eine Warnung sein. Was alt ist, hat sich oft bewährt, sonst wäre es schon lange weg. Zweitens, was alt ist, prägt ein Land oft so stark, dass es sich nur schwer ändern lässt. Warum sind alle katholischen oder orthodoxen Länder der EU hoch verschuldet? Warum sind es die protestantischen weniger? Das kann kein Technokrat erklären. Nur der Historiker.
Die neutrale Schweiz
Im späten Herbst 1631, sprach der schwedische Gesandte Christoph Ludwig Rasche bei der eidgenössischen Tagsatzung vor. Der Ritter, er war ein Deutscher, war in die Schweiz gekommen, um für ein Bündnis seines Königs mit der Eidgenossenschaft zu werben. Europa befand sich mitten im Dreissigjährigen Krieg, einem der grössten Gemetzel der Weltgeschichte – und Schweden, das kühle, ferne, aber protestantische Land war inzwischen zu einer der stärksten Grossmächte des Kontinents aufgestiegen. Sein König Gustav Adolf, ein genialer Militärkopf, ein begnadeter General, führte die Koalition der Protestanten gegen die katholischen Habsburger. Es war ein Glaubenskrieg, es war für die damaligen Verhältnisse ein Weltkrieg – unzählige Länder und Gegenden waren involviert. Täglich wurde gestorben. Das Kriegsglück schwankte hin und her, weil keine der Parteien in der Lage war, die andere entscheidend zu schlagen. Darum dauerte der Krieg so lange, von 1618 bis 1648 – dreissig brutale Jahre. Der Krieg machte insbesondere Deutschland zum Trümmerhaufen, ein Drittel der Bevölkerung kam um.
Bisher war die Eidgenossenschaft vom Krieg unberührt geblieben, eine Insel des Friedens inmitten eines Meeres von Blut. Hätten die Schweizer auf den höflichen, aber energischen schwedischen Gesandten gehört: Das hätte sich auf jeden Fall geändert.
Was die Schweden vorschlugen, wäre auf eine Parteinahme in einem grossen Konflikt hinausgelaufen, wie es die Schweiz seit der Schlacht bei Marignano im Jahr 1515, nie mehr gewagt hatte. Man war am Rand des Weltgeschehens geblieben. Nach langer und leidenschaftlicher Debatte lehnten die Orte der Eidgenossenschaft das Offensivbündnis ab, schon allein dieses Charakters wegen. Gustav Adolf erwartete von der Eidgenossenschaft, dass sie Truppen für einen Angriffskrieg zur Verfügung stellte. Überdies verlangte er Geld für seine leere Kriegskasse. Normal war das nicht. Wenn überhaupt, schickten die Eidgenossen Soldaten – und nahmen Geld. Entscheidend aber war der interne konfessionelle Gegensatz, der die Schweiz davon abhielt, sich mit Schweden zu verbünden. Für die katholischen Orte kam ein solches Bündnis mit den Protestanten, das sich gegen den katholischen Kaiser richtete, nie und nimmer infrage. Den Reformierten dagegen, die mit ihren Glaubensbrüdern litten, wäre eine Allianz zwar sehr willkommen gewesen – und doch waren auch sie sich bewusst, was auf dem Spiel stand. «Nicht nur ein verheerendes Übergreifen des europäischen Krieges auf eidgenössischen Boden wäre die Folge gewesen», schreibt Edgar Bonjour in seinem Standardwerk über die Geschichte der schweizerischen Neutralität, «dies würde auch zu einer Sprengung der Schweiz geführt und so das nationale Dasein mit Vernichtung bedroht haben.»
Standpauken aus Schweden
Rasche hatte kein Verständnis für die Position der Schweiz. An der evangelischen Tagsatzung, wo die Protestanten unter sich waren, machte er den Eidgenossen schwere Vorwürfe: «Jetzt ist nicht mehr die Zeit, sich mit der Neutralität zu behelfen. Denn unter den Zeitumständen und dem allgemeinen Zustand der Dinge gilt sie eher als Faulheit und Verräterei denn als Klugheit und Vorsicht.» Sollten die Schweizer ihr Verhalten nicht überdenken, schimpfte der Deutsche, würde Gustav Adolf diese neutrale Haltung gar als «Feindseligkeit, die ihn provoziert» betrachten. «Es ist [für die Eidgenossenschaft] viel besser, löblicher und heilsamer, sich zur Wiederherstellung, Erhaltung und Vermehrung der allgemeinen und seiner eigenen Freiheit und Wohlfahrt sich öffentlich und frei dazu zu bekennen, statt schändlich unter einem Hütchen zu spielen, Zeit zu schinden und zu heucheln. Der, der keiner Seite helfen will, reizt beide. Es ist ruhmreicher und sicherer, zuzuschlagen, als auf einen Schlag zu warten.»
Es sind Worte, die wir gut kennen. Damals waren wir unchristlich, heute sind wir Trittbrettfahrer, Profiteure, Isolationisten, Europafeinde und unsolidarisch. Die Schweiz ist seit Langem neutral – und sie ist seit Langem unbeliebt, weil sie hin und wieder ein Sonderfall ist. Auch das lehrt die Geschichte, solange George Orwell nicht den Lehrplan 22 schreibt.
http://bazonline.ch/schweiz/st…Vergessens/story/12653985
weico