Die Stunde der Wahrheit
Die Griechen stimmen am Sonntag über ihre Zukunft in der EU ab. Sie sollten Nein sagen. Ein Kommentar.
Morgen wird das griechische Volk darüber abstimmen, ob es den Sparkurs, den die EU und der IWF verlangen, fortführen möchte oder nicht. Vielleicht entscheidet man auch über Weitreichenderes: Soll der Euro künftig gelten oder tritt das Land aus dem Euro aus? Womöglich steht noch mehr auf dem Spiel: Kann Griechenland überhaupt in der Europäischen Union bleiben, wenn es den Euro aufgäbe? Mit anderen Worten, die Griechen haben über so viele Fragen zu befinden – dass wohl jeder demokratisch reife Souverän Schwierigkeiten hätte, zu einem Urteil zu gelangen.
Doch die Griechen, obwohl sie die Demokratie, und zwar die direkte, erfunden haben: Sie sind wohl keine so geübten Demokraten mehr. Zu Recht wurde da und dort moniert, Alexis Tsipras, der Premierminister, missbrauche sein Amt und habe bloss aus Verantwortungsschwäche diesen Weg gewählt. Tatsächlich hat er Hals über Kopf, mitten in den Verhandlungen mit EU, EZB und IWF, dieses Referendum angeordnet. Nur eine Woche Zeit blieb den geplagten Griechen, um sich darauf einzustellen, sich eine Meinung zu bilden und sich zu erkundigen, in welchem Stimmlokal in welchem Dorf sie zur Stimmabgabe erwartet werden: Das ist zweifellos kein ideales demokratisches Gebaren.
Überfälliger Volksentscheid
Und doch hatte Tspiras recht. Es ist Zeit, dass sich das griechische Volk einmal zu dieser Sachfrage äussern kann: Will man nach fünf verlorenen Jahren den Austeritätskurs fortsetzen – oder nicht? Gewiss, Tsipras ist ein Populist. Weil er nicht ganz ehrlich ist. Bei allem Verständnis für seine Kritik an einer verfehlten Wirtschaftspolitik, welche die Gläubiger den Griechen diktieren: Konsequent wäre er, wenn er den Griechen reinen Wein einschenkte. Tsipras tut so, als ob er das Referendum nur nutzen möchte, um von der EU bessere Bedingungen zu erhalten. Das ist sogar denkbar, weil die EU schon so oft nachgegeben hat – warum nicht erneut? Ehrlich wäre es aber, Tsipras würde sein Land, das bankrott ist, auch bankrottgehen lassen und aus dem Euro austreten. Man kann nicht beides haben: Wenn die Griechen sich vor dem offiziellen Bankrott fürchten, dann müssen sie sich den Forderungen der Gläubiger beugen. So ist das, wenn man sich verschuldet. Das gilt für jeden Hypothekarschuldner – und für jeden Unternehmer. Für Staaten – ich gebe es zu – gelten diese Regeln lange nicht – aber ein wenig eben doch. Es ist eine Frage der Zeit. Es sei denn, die Gläubiger haben ein Einsehen. Wären sie klug, hätten sie das.
Was geschieht morgen und übermorgen?
Noch ist völlig unklar, wie morgen das Ergebnis lautet. Sicher ist aber eines: Die griechische Tragödie geht auf jeden Fall weiter. Stimmt das Volk Ja, dürfte das das Ende der Regierung Tsipras bedeuten. Wer aber in Brüssel und Berlin hofft, es käme eine geschmeidigere Regierung an die Macht, dürfte sich täuschen. Vielleicht kommen die Griechen erst richtig auf den Geschmack. Sie haben gelernt, wie verzweifelt und hilflos die EU mit einer Regierung umgeht, die ihr nicht passt. Warum wählen sie nicht das nächste Mal die Faschisten? Oder eine Militärdiktatur? Alles ist möglich.
Gewinnt Tsipras, ist die EU gezwungen, sich endlich zu entscheiden. Es kann so nicht weiter- gehen. Das Sparprogramm, das man Griechenland aufgenötigt hat, funktioniert nicht. Und das ist höflich ausgedrückt: Es ist eine Katastrophe, es zerstört das Land, es radikalisiert die Bürger. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Die Griechen sind zu einem grossen Teil selber schuld. Sie haben die miserablen Politiker gewählt, die sie in den Ruin getrieben haben, bürgerliche und sozialistische. Und ja, es waren die Griechen, die sich so besinnungslos verschuldet haben, – nicht die Deutschen. Die Griechen haben auf Kosten der halben Welt pausenlose Geldvernichtung betrieben. Aber das ist das Wesen eines Bankrotteurs: Er hat Fehler begangen. Es hilft den Gläubigern wenig, immerzu darauf hinzuweisen. Und es ist gefährlich, aus einem Bankrotteur einen Verbrecher zu machen.
Deutsche Schuld
Es hat etwas Tragisches: Ausgerechnet die Deutschen, genauer: Angela Merkel, die unfassbare, undeutliche, nur scheinbar entscheidungsstarke deutsche Bundeskanzlerin, will den Griechen weitere Jahre des Elends auferlegen. Wenn jemand Verständnis haben müsste für die unendlichen Risiken, die einem Land drohen, wenn es in den Schulden versinkt, wenn es vor aller Welt gedemütigt wird, wenn es wirtschaftlich zerfällt, weil halsstarrige Gläubiger die Schulden nicht erlassen, dann müssten das die Deutschen sein. Ihnen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg enorme Schulden gestrichen – von den Westmächten, die auf brutale Art und Weise hatten lernen müssen, was es kostet, ein Land in die Austerität und die Depression zu stürzen.
1919 schrieb ein kluger britischer Ökonom, der bereits auf dem Weg zum Star war, eine Beurteilung des Versailler Vertrages, besonders von dessen wirtschaftlichen Auswirkungen. Mit diesem Vertrag beendeten die Alliierten den Ersten Weltkrieg, unter anderem bestimmten sie, dass Deutschland auf Jahrzehnte hinaus Reparationen zahlen musste, um die Siegermächte zu entschädigen. Unverständlich war diese Forderung nicht. Deutsche Truppen hatten Nordfrankreich verwüstet. Die einst blühende Region glich einer Mondlandschaft nach Einschlag zweier Meteoriten.
Der Brite schrieb: «Werden die unzufriedenen europäischen Völker bereit sein, eine Generation lang einen gut Teil dessen, was sie erzeugen, darauf zu verwenden, Schulden bei einer ausländischen Macht abzutragen?» Es war eine rhetorische Frage: «Kurz, ich glaube nicht, dass diese Reparationen länger bezahlt werden als ein paar Jahre. Sie entsprechen nicht der menschlichen Natur und dem Zeitgeist.» Und er warnte, dass die Lage ausser Kontrolle geraten werde.
Erinnerungen an 1953
John Maynard Keynes schrieb das 1919. Und natürlich hatte er, der zu einem der grössten Ökonomen aller Zeiten aufsteigen sollte, recht. Und sicher wäre es ihm lieber gewesen, er hätte nicht recht bekommen. Hitler ist wohl undenkbar ohne Versailler Vertrag. Was hätten sich die Europäer erspart, wenn sie rechtzeitig darauf verzichtet hätten, was ihnen ohne jeden Zweifel zustand? Denn, dass Deutschland eine grosse Verantwortung für den Ausbruch des Krieges trug: Wer möchte das bestreiten?
1953 ging es in London darum, wie man mit den deutschen Schulden eines noch viel schlimmeren Krieges umgehen sollte, des Zweiten Weltkrieges, den die Deutschen noch viel eindeutiger ausgelöst hatten. Jetzt waren vor allem die Amerikaner die Klügeren. Es gibt vermutlich historisch keine grössere Leistung. Gerade wir in Europa, wo rituelles Naserümpfen über die USA inzwischen als Zeichen guter Manieren gilt, sollten den Amerikanern ewig dafür dankbar sein. Man erliess den Deutschen alle Schulden.
Die Bundesrepublik wäre wirtschaftlich nie zu jenem Wunder geworden, auf das die Deutschen heute zu Recht stolz sind. Auf diesem Zusammenhang hat kürzlich der amerikanische Ökonom Jeffrey Sachs hingewiesen, ein Linksliberaler, mit dem ich selten übereinstimme. Hier hat er recht: «Wer einen Schuldenerlass ‹verdient›, bleibt eine schwierige Frage. Aber genau wie im Fall Deutschlands im Jahr 1953 lautet die richtige Frage, ob Griechenland einen Schuldenerlass braucht und ob Deutschland und die übrigen Gläubiger ihn gewähren sollten.
Politischer Niedergang
Auf diese Frage ist die Antwort klar. Entweder die Eurozone versteht sich zu einer vernünftigen Schuldenerleichterung oder sie steuert auf einen politischen Zusammenbruch hin, dessen Folgen unendlich grösser sind als Griechenland.
Auch der Erste Weltkrieg brach aus wegen eines unglücklichen Ereignisses in einer unbedeutenden Gegend in Südosteuropa. Nicht dass Krieg drohte: aber politischer und wirtschaftlicher Niedergang für ganz Europa könnte bevorstehen. Es wäre gut, die Griechen würden Nein stimmen. Sonst spüren die Technokraten und Politiker der EU nicht, wie ernst die Lage ist. Die Zerstörung Griechenlands muss ein Ende haben.
http://bazonline.ch/ausland/eu…r-Wahrheit/story/12204277
weico