SMI im Oktober
Hab in der NZZ am 15.10 diesen hervorragenden Artikel zur "Finanzkrise" gefunden. Im Feuilleton Teil! Es lohnt sich einmal darüber nachzudenken. Vor allem wenn man glaubt, betrogen worden zu sein.
Trügerisches Vertrauen
Über die Finanzkrise und die Frage, wie aus Unglaubwürdigkeit Unwiderstehlichkeit wird
Von Dirk Baecker
Das Gefühl, betrogen worden zu sein, haben derzeit vermutlich nicht wenige, die von der Finanzkrise betroffen sind. Es gibt aber «Betrügereien», die nur funktionieren, wenn die Opfer mitspielen - im «Vertrauensspiel». Der Schriftsteller Herman Melville und der Soziologe Erving Goffman könnten helfen, das «confidence game» besser zu verstehen.
Eine der wichtigsten Figuren der amerikanischen Mythologie ist - spätestens seit Herman Melville ihr einen 1857 publizierten Roman gewidmet hat - der «confidence man» oder auch «conman». Der «confidence man» betrügt, indem er sein Opfer dazu bringt, ihm ein eher ungewöhnliches Vertrauen entgegenzubringen, ungewöhnlich insofern, als bereits die Geschichte, die der Betrüger seinem Opfer erzählt, eine strenggenommen unglaubwürdige Note enthält, die das Opfer glauben macht, ihm würde ein besonders günstiges und seltenes Glück zuteil, wenn es sich auf das Angebot des Betrügers einlässt. Die Geschicklichkeit des Betrügers besteht darin, aus der Unglaubwürdigkeit die überzeugungskräftigsten Argumente zu gewinnen. Die Unglaubwürdigkeit bringt das Opfer dazu, sich nicht vorstellen zu können, dass ein Betrüger ausgerechnet eine solche Geschichte erzählen würde. Und sie bringt das Opfer dazu, sich gleich doppelt begünstigt zu sehen, weil die ungewöhnliche Geschichte eine seltene Geschichte sein muss, das heisst: wohl kaum auch anderen in dieser Form begegnet. Es sind die einmaligen Gelegenheiten, denen wir nicht widerstehen können, bei allen anderen wären wir vorsichtig.
Doppelt betrogen
Knapp einhundert Jahre nach dem Roman von Melville, dem übrigens nur ein sehr bescheidener Erfolg zuteil wurde, beschäftigte sich Erving Goffman, der grosse kanadische Soziologe, in einem 1952 erschienenen Aufsatz unter dem Titel «On Cooling the Mark Out: Some Aspects of Adaptation to Failure» seinerseits mit dem Thema des «confidence game». Goffman vermutet, es bei diesen betrügerischen Spielen mit einer elementaren sozialen Struktur zu tun zu haben, nicht etwa mit einer Ausnahme von der Regel. Er kommt auf diese Idee, weil er sich besonders intensiv mit dem Umstand beschäftigt, dass die Betrüger meist zu zweit auftreten. Der erste betrügt das Opfer mit seiner unglaubwürdig-unwiderstehlichen Geschichte, und der zweite nähert sich dem Opfer, sobald es, natürlich zu spät, den Betrug bemerkt hat, um es zu beruhigen und daran zu hindern, zur Polizei zu gehen. Denn nichts können diese Betrüger weniger gebrauchen als einen Aufruhr, der darauf hinweisen würde, dass etwas im Gang ist.
Also wird das Opfer zum zweiten Mal betrogen, dieses Mal um seinen berechtigten Zorn, indem es darauf hingewiesen wird, es würde sich mit seiner Dummheit, auf einen solchen Trick hereingefallen zu sein, nur lächerlich machen und so zusätzlich zu seinem materiellen Verlust auch noch sein Gesicht verlieren. Besser sei es, so der zweite Betrüger, den Betrug als Lehre fürs Leben hinzunehmen, sich hinfort um ebendiese Lehre klüger zu wissen und stillzuhalten. - Haben wir es, so fragt Goffman, vielleicht an mehr Stellen, als es uns lieb sein kann, mit betrügerischen Spielen dieser Art zu tun, die nur deswegen nicht auffliegen, weil wir im Zweifel eher bereit sind, etwas aus ihnen zu lernen, als sie an die grosse Glocke zu hängen und dabei gleichzeitig als die Dummen zu erscheinen?
Die gegenwärtige Finanzkrise, die mittlerweile so verdächtig einhellig als Vertrauenskrise verstanden und behandelt wird, scheint jedenfalls ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass eine solche eher melancholische Betrachtung der Gesellschaft nicht ohne ihre Richtigkeit ist. Die Sache ist allenfalls deswegen etwas komplizierter, weil nicht so recht ausgemacht zu sein scheint, wer hier der Betrüger und wer das Opfer ist, ganz zu schweigen von der Frage, wer der erste Betrüger und wer sein Helfershelfer ist.
Einige der wichtigsten Elemente der Krise haben wir inzwischen verstanden: die Überversorgung der amerikanischen und damit der Weltwirtschaft mit Liquidität nach dem 11. September 2001, beaufsichtigt von einem der grössten Pokergesichter der Wirtschaftspolitik, Alan Greenspan, seinerzeit der Vorsitzende der amerikanischen Notenbank; die Umwandlung eines grossen Teils dieser Liquidität nicht nur in Massnahmen der Unternehmensrestrukturierung («mergers & acquisitions») grössten Stiles, sondern auch in die Förderung des amerikanischen Konsumenten durch die Finanzierung der Kredite für sein Hauseigentum; die Bündelung zweifelhafter Kredite in marktfähige Finanzierungsinstrumente, deren Risiken nicht mehr von den auf Einzelrisiken achtenden Kreditabteilungen der Banken, sondern von Marktrisiken beobachtenden Investmentabteilungen eingeschätzt wurden; der Vertrieb dieser Finanzierungsintrumente nicht zuletzt an öffentlichrechtliche Banken, deren politische Aufsichtsorgane offenbar entweder froh waren, sich an der Bonanza beteiligen zu können, oder von der Sache nichts verstanden (oder beides); und nicht zuletzt die bewusste Ausschaltung der Risikoüberwachungsinstrumente in den Banken der Wall Street durch deren Fütterung mit unrealistisch optimistischen Daten.
All das und mehr konnte man in den vergangenen Wochen und Monaten nachlesen, und all das lässt eine Karikatur der Ereignisse entstehen, die vermutlich so manchen wahren Kern enthält, auch wenn wir nicht wissen, ob sie nicht bereits zu jener Geschichte gehört, mit der uns beigebracht werden soll, lieber Lehren aus der Geschichte zu ziehen, als uns über den Betrug aufzuregen.
Liquiditätspoker
Aber wer ist hier der Betrüger, wer sein Helfershelfer und wer der Betrogene? Wessen Vertrauen wurde hintergangen? Und wessen Vertrauen soll und muss jetzt wieder aufgebaut werden? Es liegt auf der Hand, dass die staatliche Notenbank sowie die weitgehend staatlichen Hypothekenbanken der USA eine ebenso grosse Rolle beim Gesamtbetrug spielen wie der überrascht die günstigen Hypotheken kaufende Konsument, der smarte Wall-Street-Investmentbanker, der sich «strukturierte» Finanzinstrumente einfallen lässt, und die zahllosen Käufer dieser unter dem Etikett «Kapitalschutz» laufenden Instrumente auf der ganzen Welt. Der Betrug verdankt sich mindestens so sehr einem staatlichen Poker mit der einzuknicken drohenden US-Wirtschaft wie dem riskanten Spiel von Investmentbanken, deren Eigenkapital-Unterfinanzierung staatlichen Aufsichtsorganen kein Anlass zu Sorge war, und der Bereitschaft von Hypothekenkredit-Käufern und Geldanlegern, die sich schlicht und ergreifend eine viel zu gute Gelegenheit nicht entgehen lassen wollten.
Es ist nicht der Kapitalismus, der hier versagt hat oder gar sein wahres Gesicht der «Gier» gezeigt hat. Wir haben es mit einem Liquiditätspoker um die dominierende Rolle in der Weltwirtschaft zu tun, die für viel zu viele Beteiligte viel zu überraschende Gewinnmöglichkeiten bot, um es einer hinreichenden Zahl von Behörden, Banken und Kunden zu erlauben, der ganzen Sache nicht zu trauen und sich nicht an ihr zu beteiligen. Wenn Barack Obama und John McCain jetzt beide davon sprechen, im Falle ihres Sieges den Milliardär Warren Buffett zum Finanzminister zu ernennen (man darf gespannt sein, ob er die Wahl annimmt), so deutet sich damit nicht nur die Rückkehr zu den sogenannten Fundamentalwerten der Wirtschaft an, sondern auch der Versuch einer neuen Geschichte, mit der das Vertrauen der Weltwirtschaft zurückgewonnen werden soll.
Dirk Baecker lehrt Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen am Bodensee und lebt in Basel. Jüngste Buchpublikation: «Studien zur nächsten Gesellschaft» (Suhrkamp 2008).
[NZZ 15.10.2008. Seite 43. Dirk Baecker]