«Der Dollar ist nicht stärker, den Euro gibt es noch»
Inflation
Das Jahr hat den Anlegern bisher recht unangenehme Zeiten beschert. Die Liste der scheinbar absehbaren Selbstverständlichkeiten, die sich dann doch nicht materialisiert haben, ist lang.
Keine Alternative? Von wegen.
Das scheint sich an der Börse gerade wieder zu bewahrheiten: Der Jahresanfang hat viele Finanzmarktteilnehmer auf dem falschen Fuss erwischt. Diesmal sind es aber keine Wirtschaftsnachrichten oder überraschenden politischen Ereignisse, die dafür verantwortlich sind. Verantwortlich ist ausschliesslich Tina.
Tina?
Tina steht für den Schlachtruf der Perma-Bullen am Aktienmarkt: «There is no alternative!» Gemeint ist, dass es zur Aktie keine Alternative gäbe. Pustekuchen. Wo sonst der Januar-Effekt die Aktienkurse in die Höhe treibt, ist dieses Jahr Wundenlecken angesagt. Im Schnitt der letzten 90 Jahre konnte der US-Aktienmarkt im ersten Monat des Jahres 6 Prozent zulegen. In diesem Jahr ist er um knapp 4 Prozent gefallen.
Der Dollar wurde nicht stärker, den Euro gibt es noch
Auch die Zinsen sind nicht weiter gestiegen, wie alle angesichts des begonnenen «Tapering» der US-Notenbank Fed gemeint haben. Der Dollar ist nicht stärker geworden. Den Euro gibt es immer noch. Die Liste der von den Finanzmarktakteuren akzeptierten Selbstverständlichkeiten, die sich dann doch nicht materialisiert haben, ist lang.
Ganz offensichtlich ist das, was alle sagen, kein so guter Leitfaden für die zukünftige Entwicklung. Fast ist man versucht zu überlegen, was denn wohl das hartnäckigste Vorurteil der Börsianer ist, um dann das Gegenteil davon zu erwarten. Kandidaten gibt es dafür eine ganze Reihe. Das aber wohl wichtigste Thema scheint allerdings die Inflation zu sein. Die ist ja bekanntlich kein Thema. Oder?
Volkseinkommen drei Prozent unter ihrem Potenzial
Tatsächlich liegen die Inflationsraten in den Industrienationen praktisch durchs Band in dem Bereich, den man als Preisstabilität bezeichnen würde. In der Schweiz steigen die Konsumentenpreise gerade mal um 0,1 Prozent über das Jahr, in der Euro-Zone um 0,9, in den USA um 1,5, in Japan um 1,6 und in Grossbritannien um 2 Prozent. Das sind allesamt tiefe Zahlen, die niemandem Sorge machen müssen. Noch immer gibt es warnende Stimmen, die sogar von Deflation sprechen.
Aber sind die Zahlen wirklich so niedrig? Gemeint ist nicht die von vielen vermutete Verzerrung der offiziellen Inflationsstatistiken. Wer offenen Auges durch das Leben geht, sieht, dass die Preise zumindest des gehobenen Bedarfs fleissig steigen. Gemeint ist die Frage, ob angesichts der Wirtschaftslage die Inflationsraten wirklich niedrig sind. Vergessen wir nicht, dass viele Industrienationen noch mit den Spätfolgen der Wirtschaftskrise zu kämpfen haben. So berechnet der internationale Währungsfonds, dass die Volkseinkommen der entwickelten Länder immer noch volle 3 Prozent unter ihrem Potenzial liegen. Das war zuletzt in der Weltrezession von 1982/83 der Fall.
Abnahme der Inflation
Historisch betrachtet haben solche Situationen der Unterauslastung der volkswirtschaftlichen Kapazitäten regelmässig zu einer deutlichen Abnahme der Inflation geführt. Als Faustregel mag gelten, dass 1 Prozent Produktion unter dem Potenzial zu einer Abnahme der Inflation um 0,5 Prozent geführt hat. Mit anderen Worten, die Inflation müsste heute also viel tiefer liegen, als sie es eigentlich ist. Im vergangenen Jahr lag die durchschnittliche Inflation in den entwickelten Volkswirtschaften bei 1,4 Prozent, was lediglich einen Rückgang von 0,6 Prozentpunkten ausmacht und nicht die erwarteten 1,5 Prozentpunkte. Tut sich da etwas?
Als Begründung für die hartnäckigen Inflationsraten kann man sicher anführen, dass trotz weltwirtschaftlicher Schwäche in den letzten beiden Jahren die Inflationsraten in den Schwellenländern hartnäckig bei über 6 Prozent verharrt sind. In einigen wichtigen Schwellenländern sehen wir insbesondere bei den Löhnen für gelernte Arbeit noch deutlich höhere Zuwachsraten. Vielleicht sind das die ersten Anzeichen, dass die disinflationären Effekte der Globalisierung langsam auslaufen.
Wie dem auch sei, es ist nicht leicht zu begründen, dass die Inflationsraten nur unwesentlich unterhalb der jeweiligen Definition der betrachteten Zentralbanken für Preisstabilität liegen. Oder liegt das an der seit der Finanzkrise äusserst expansiven Geldpolitik der Notenbanken selbst? Für jemanden, der mit der eng an der Geldmengenentwicklung orientierten Geldpolitik der Deutschen Bundesbank gross geworden ist, ist die augenblickliche Gelassenheit der Beobachter angesichts der explosionsartigen Aufblähung der Zentralbankbilanzen nicht wirklich nachvollziehbar.
Realität und historische Erfahrung klaffen auseinander
Dass eine Verfünffachung der Notenbankgeldmenge in den USA, in Grossbritannien und in der Schweiz keinen Effekt auf die zukünftige Inflationsentwicklung haben sollte, erscheint doch unglaubwürdig. Und doch sind die Finanzmärkte an diesem Thema der Tiefenentspannung nahe. So weisen die an den Renditen für inflationsgeschützte Staatsanleihen ablesbaren Inflationserwartungen der Marktteilnehmer Werte auf, die weit unter den historischen Durchschnittsinflationsraten der jeweiligen Länder liegen.
In den USA rechnen die Börsianer gerade einmal mit einer Inflationsrate von knapp über 2 Prozent im Schnitt der kommenden zehn Jahre. Das wäre beinahe ein halber Prozentpunkt unter dem Schnitt der letzten zehn Jahre, in denen ja immerhin die grösste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise stattgefunden hat. Ein halbes Prozent weniger Inflation, nach der wahrscheinlich grössten geldpolitischen Expansion der Weltgeschichte?