Die gravierendsten Urteile aus Strassburg
Das Stimmvolk verliert mehr und mehr die demokratische Bestimmungsmacht, über was Recht und was Unrecht ist. Diverse Urteile aus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte untermalen dies.
Der Einzelfall bringt das System zum Wanken. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mit seinem Urteil von letzter Woche gegen die Rückführung einer afghanischen Familie nach Italien in die Asylpraxis der Schweiz eingegriffen und einen umstrittenen neuen Standard im Dublin-Asylabkommen gesetzt.
Doch die tiefere Problematik hinter dem Urteil reicht über die aktuelle Kontroverse zu Asyl- und Ausländerfragen hinaus. Die Schweiz delegiert ihre demokratische Selbstbestimmung in bedeutend grösserem Ausmass an den EGMR, als dies das Urteil zur afghanische Familie Tarakhels erahnen lässt.
Zentrum für politisierende Richter
Die Menschenrechtskonvention, in den 1950er-Jahren noch ziemlich schlank, wird seither alle zwei, drei Jahre um Zusatzprotokolle, neue Rechte und Verbote ergänzt. Die Staaten des Europarats übernehmen diese wohl oder übel; niemand will sich dem Verdacht aussetzen, Menschenrechte infrage zu stellen und so zu den Bösen gezählt zu werden. Die unbestrittene Grundhaltung, dass Menschenrechte zu schützen sind, wird von den 47 Strassburger Richtern mehr und mehr dazu genutzt, allgemeingültig anzuordnen, was Menschenrechte im konkreten Fall bedeuten.
Die gravierendsten Fälle der vergangenen Jahre, die Schweiz betreffend, zeigen Schlaglichter, wie umfassend der EGMR die Menschenrechtskonvention (EMRK) heute auslegt. Strassburg ist zum richterlichen Zentrum politischer Macht geworden, von wo aus ein juristischer Dauerdruck auf die Mitgliedstaaten ausgeübt wird.
Fall Udeh
Der Nigerianer Udeh reiste 2001 unter falschem Namen in die Schweiz ein. Er stellte ein Asylgesuch, das abgelehnt wurde. Daraufhin verliess er die Schweiz. In der Absicht, eine Schweizerin zu heiraten, reiste er 2003 wieder ein. Nach der Heirat bekamen Udeh und seine Frau Zwillinge. Drei Jahre später wurde Udeh in Deutschland beim Kokainschmuggel erwischt und zu 42 Monaten Gefängnis verurteilt. Nach der Haft kam er wieder in die Schweiz zur Familie. Die Ehe wurde später geschieden. Udeh blieb hier und wurde 2012 erneut Vater. Die neue Partnerin ist ebenfalls Schweizerin.
2009 hatte das Bundesgericht Udeh die Aufenthaltsbewilligung verweigert. Es begründete dies unter anderem mit dessen Straffälligkeit und Sozialhilfeabhängigkeit. Am 16. April 2013 entschieden die Richter am EGMR schliesslich mit fünf gegen zwei Stimmen zugunsten von Udeh. Aus dem Anspruch auf Schutz des Familienlebens (Artikel 8 der EMRK) hatte die Mehrheit der Richter abgeleitet, dass die Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe und die Sozialhilfeabhängigkeit keine ausreichenden Gründe seien, um Udeh auszuweisen und von seinen Kindern zu trennen. Die Schweiz wollte den Fall durch die grosse Kammer am EGMR neu beurteilen lassen. Doch dies wurde ihr verweigert. Damit wurde das Urteil definitiv und die Schweiz musste Udeh 9000 Euro Genugtuung zahlen.
Fall Hasanbasic
Dank des gleichen Artikels 8 im EMRK hat der Strassburger Gerichtshof einem 1956 im heutigen Bosnien-Herzegowina Geborenen recht gegeben. Hasanbasic verliess im August 2004 nach 20 Jahren die Schweiz in Richtung Heimat. Er bezog dort sein neues Haus. Ein gutes Jahr später änderte er seine Meinung und wollte in die Schweiz zurück, aus gesundheitlichen Gründen. Das Bundesgericht lehnte 2009 die Aufenthaltsbewilligung ab. In der Begründung verwies es unter anderem auf Hasanbasics Sozialhilfeabhängigkeit, sowie auf Verurteilungen wegen Hausfriedensbruch und wegen Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz.
Am 11. Juni 2013 entschied Strassburg zugunsten des Bosniers und damit gegen das Bundesgericht. Für die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung seien eine lange Aufenthaltsdauer und ein schlechter Gesundheitszustand höher zu gewichten als Sozialhilfeabhängigkeit und Straffälligkeit.
Fall Schlumpf
Nach Auffassung der Richter in Strassburg ist es ein Menschenrecht, sich eine Geschlechtsumwandlung zahlen zu lassen. Dies zeigt der Fall einer Beschwerdeführerin, die ihre Geschlechtsumwandlung beschlossen hatte und seit 2002 im Alltag als Frau lebte. 2003 startete sie eine Hormon- und Psychotherapie. Im November 2004 beantragte sie bei ihrer Krankenkasse die Kostenübernahme für eine Geschlechtsumwandlungsoperation. Die Krankenkasse lehnte das Gesuch postwendend ab. Ohne die Ab- sage zur Kenntnis genommen zu haben, liess sich die Beschwerdeführerin am 30. November 2004 operieren. Daraufhin verlangte sie von der Krankenkasse eine anfechtbare Verfügung. Der Fall landete vor Bundesgericht, das mehrere Beschwerden abwies. Gemäss Rechtssprechung werden die Kosten für solche Operationen nur dann übernommen, wenn die Diagnose gesichert ist. Dafür ist vorgängig während zwei Jahren eine Hormon- und Psychotherapie nötig.
Das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) verlor in Strassburg auf der ganzen Linie. Die Beschwerdeführerin, zum Zeitpunkt ihrer Operation 67 jährig, machte geltend, die Anwendung der Rechtssprechung zur Wartefrist von zwei Jahren sei eine Verletzung des Menschenrechts auf Achtung des Privatlebens. Das EVG habe bei der Anwendung der zweijährigen Wartefrist nicht berücksichtigt, dass bei der Feststellung von Transsexualität medizinische Fortschritte vorhanden seien. Der Entscheid des EVG habe der besonderen Situation der Beschwerdeführerin nicht genügend Rechnung getragen.
Fall Rhino
Zum Schutz der Menschenrechte gehört nach Auffassung der Strassburger Richter auch das Recht, sich in einem Verein mit rechtswidrigem Zweck zusammenzuschliessen. Hintergrund dieses EGMR-Urteils war die Besetzung von drei Genfer Liegenschaften zwischen 1988 und 2007. Die Besetzer gründeten aus diesem Anlass einen Verein, die Association Rhino. Gemäss Statuten war Vereinszweck, besetzte Liegenschaften dem Immobilienmarkt und der Spekulation zu entziehen. Nachdem die Besetzung jahrelang behördlich geduldet worden war, wurde der Verein schliesslich auf Antrag der Hauseigentümer gerichtlich aufgelöst. Die Liegenschaften wurden geräumt. Der EGMR befand aber, die Auflösung des Vereins stelle eine schwerwiegende, im konkreten Fall unverhältnismässige Massnahme dar. Er verurteilte die Schweiz zur Zahlung einer Entschädigung von 65 651 Euro als Ersatz des materiellen Schadens (eingezogenes Vereinsvermögen) und von 21 969 Euro für die Gerichts- und Anwaltskosten. Vorhalt an die Schweizer Behörden: Sie hätten nicht nachgewiesen, dass es keine milderen Mittel gegeben hätte, um die Besetzungen zu beenden.
Fall Glor
Aufgrund eines EGMR-Urteils im Falle des zuckerkranken Sven Glor musste die Schweiz eine Gesetzesänderung durchführen. Der junge Diabetiker wehrte sich durch alle Instanzen hindurch gegen die Ersatzsteuer für leicht behinderte Männer, den Militärpflichtersatz. Nach Auffassung des EGMR hat das Bundesgericht mit seiner abgewiesenen Beschwerde das Diskriminierungsverbot verletzt. Nach den Richtern wurden in der Schweiz leicht behinderte Dienstuntaugliche einerseits gegenüber erheblich Behinderten diskriminiert, die keinen Militärpflichtersatz bezahlen müssen. Andererseits stellte das Gericht auch eine Benachteiligung gegenüber Dienstverweigerern aus Gewissensgründen fest, weil diese Zivildienst leisten dürfen.
Fast jeder Lebensbereich tangiert
2012 und 2013 wurde die Schweiz insgesamt 13 Mal von Strassburg zurückgepfiffen. Das Problem dieser Urteile ist weniger, ob sie nun mehrheitlich als «richtig» oder «falsch» empfunden werden. Die politische Herausforderung ist vielmehr, dass die EGMR-Juristen mit ihren Urteilen die Schweiz auf undemokratische Art verändern. Genau diesen Sachverhalt hat Bundesrichter Hansjörg Seiler in einer detaillierten Studie wissenschaftlich nachgewiesen. Die Studie Seilers, der für die SVP gewählt wurde, ist in der für Fachkreise wichtigen Zeitschrift des Berner Juristenvereins veröffentlicht.
In den letzten Jahren seien in elf bis 13 Prozent aller Bundesgerichtsurteile die EMRK erwähnt worden, hält Seiler fest. Menschenrechtskonvention und EGMR beeinflussten die bundesgerichtliche Rechtssprechung in einem grossen Bereich. Artikel 8 EMRK und die daraus abgeleitete Praxis des Gerichtshofs in Strassburg haben «namentlich in Bezug auf den Familiennachzug und die ausländerrechtlichen Fernhaltemassnahmen praktisch zu einer Parallelrechtsordnung neben dem Gesetzesrecht» geführt.
«Auf den Kopf gestellt»
Die Richter schaffen in Strassburg ihr Recht und nicht mehr die politisch legitimierten Instanzen Parlament und Volk. Die dynamische Rechtsübernahme betrifft nach Seiler nicht allein das Ausländerrecht. Demnach unterläuft das «Richterrecht» (Seiler) das demokratisch beschlossene Gesetzesrecht massgeblich auch in den Bereichen Strafrecht, Namens- und Familienrecht, Steuerrecht, Sozialversicherungsrecht und Militärrecht. Stark betroffen sind auch die Bereiche Datenschutz sowie Radio- und Fernsehen. Weil das Richterrecht des EGMR Vorrang vor dem Gesetzesrecht und sogar vor dem Verfassungsrecht beansprucht, wird die «Legitimationsgrundlage der Rechtsordnung auf den Kopf gestellt».
Aus dem früheren Kerngedanken, Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür, sind dank EMRK über die Jahre persönliche Ansprüche auf staatliche Leistungen geworden. Es sind gegen 500 Beschwerden aus der Schweiz, die jährlich in Strassburg landen. Die Bundesverfassung will, dass über alles Wichtige in der Schweiz direktdemokratisch oder zumindest durch die gewählte Bundesversammlung entschieden wird. Das Volk kann Gesetze ändern, die Lausanne «falsch» auslegt. Für Strassburg ist das so nicht möglich.
http://bazonline.ch/schweiz/st…Strassburg/story/16712403
weico