Von wachsender Ungleichheit keine Spur
Die in der Schweiz immer wieder hochkochenden Diskussionen über eine wachsende Ungleichheit entbehren jeglicher empirischen Grundlage. Zu diesem Ergebnis kommt nicht nur das Bundesamt für Statistik in seinen bisherigen Studien, sondern auch Avenir Suisse. Die Denkfabrik zieht in dem Heft «Verteilung» drei verschiedene Methoden heran, um die bestehende Ungleichheit in der Schweiz zu messen. Im Zentrum steht als statistisches Mass der Gini-Koeffizient, der einen Wert zwischen null und eins annehmen kann. Je näher der Koeffizient bei null liegt, desto gleicher sind die Einkommen bzw. Vermögen verteilt. Nimmt er dagegen den Wert eins an, heisst das: Einer hat alles, der Rest dagegen nichts.
Der Ausbildung sei Dank
Als erste Kennziffer zog Avenir Suisse die Arbeitseinkommen von Vollzeitangestellten heran. Innerhalb von 31 Mitgliedsländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rangiert die Schweiz im Hinblick auf eine homogene Verteilung der Arbeitseinkommen an erster Stelle. In keinem anderen Land liegt der Gini-Koeffizient mit 0,24 so nahe bei null. Patrik Schellenbauer von Avenir Suisse schreibt denn auch, die Schweiz stehe sogar «besser» da als die in der Regel als besonders egalitär geltenden skandinavischen Länder. Am anderen Ende der Skala rangieren die angelsächsischen Länder sowie Portugal, Polen und Israel. Der OECD-Mittelwert beläuft sich auf 0,33.
Eine zentrale Erklärung für die Spitzenposition der Schweiz dürfte das duale Berufsbildungssystem sein, durch das die Zahl an Personen ohne nachobligatorische Ausbildung mit 5% relativ gering ist. Letztere verdienen im Vergleich mit besser Ausgebildeten relativ wenig. Wäre ihr Bestand am Schweizer Arbeitsmarkt höher, stiege auch die Ungleichverteilung an.
Etwas weniger rosig sieht es für die Schweiz dagegen aus, wenn man den Gini-Koeffizienten für die Lohneinkommen der erwerbsfähigen Bevölkerung berechnet. Dabei handelt es sich um die zweite Berechnungsmethode. In diese Grösse fliessen jene Personen ein, die freiwillig oder unfreiwillig nicht arbeiten oder teilzeitbeschäftigt sind. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass das (Un-)Gleichheits-Mass in allen Ländern gegenüber dem ersten Datensatz ansteigt. In der Schweiz beträgt es trotz einer hohen Erwerbsquote 0,49. Dieses – im Verhältnis zum Arbeitseinkommen der Beschäftigten mit einer vollen Stelle – gestiegene Mass an Ungleichheit resultiere vor allem aus dem hohen Anteil an Teilzeitbeschäftigten in der Schweiz. Mit anderen Worten: Gehen eines Tages mehr Frauen einer Voll- statt einer Teilzeitbeschäftigung nach, wird auch der Gini-Koeffizient für die Lohneinkommen der erwerbsfähigen Bevölkerung sinken.
Umstrittene Statistiken
Die in der öffentlichen Wahrnehmung umstrittenste Kennziffer ist jene für die Verteilung der Vermögen. Auf Basis der Steuerstatistiken liegt der Gini-Koeffizient der (steuerlichen) Reinvermögen, also Vermögenswerte nach Abzug der Schulden, bei 0,81. Allerdings wird diese Berechnungsmethode immer wieder kritisiert, weil darin diverse Vermögen nicht einfliessen. Avenir Suisse verweist auf vier Posten: erstens die in der beruflichen Vorsorge (BVG) verwalteten Vermögen, die sich 2011 auf 750 Mrd. Fr. belaufen haben sollen. Der Think-Tank geht davon aus, dass die während der Erwerbsphase angesparten Beiträge nur unwesentlich ungleicher verteilt seien als die Löhne. Denn zwischen dem Koordinationsabzug und dem maximal versicherbaren Gehalt gelte ein vom Lohn unabhängiger Beitragssatz.
Zweitens fliessen die in der dritten Säule angesparten Vermögen in einem Umfang von geschätzt 78 Mrd. Fr. nicht in die Berechnungen auf Basis der Steuerstatistik ein. Aufgrund der begrenzten steuerlichen Abzugsfähigkeit dürften diese Vermögen sehr gleichmässig verteilt sein, heisst es in dem Heft. Drittens verweist Avenir Suisse auf die Differenzen zwischen dem Steuerwert privat gehaltener Immobilien und deren tatsächlichem Marktwert. Nach Schätzungen der Schweizerischen Nationalbank entspricht der Steuerwert nur 60% des effektiven Marktwerts. Danach dürfte das nicht erfasste Vermögen der oft im Eigentum des Mittelstands befindlichen Immobilien bei 400 Mrd. Fr. liegen. Und schliesslich, als vierten Punkt, verweist Avenir Suisse auf die im Umlageverfahren finanzierte erste Säule, deren – nicht angespartes – Vermögen sich auf bis zu 350 Mrd. Fr. belaufen soll.
Deutschland macht Mut
Die Steuerstatistik des Jahres 2009 wies ein Vermögen von «nur» 1400 Mrd. Fr. aus, ohne die restlichen vier weiteren Kennziffern in Höhe von geschätzt 1500 Mrd. Fr. zu berücksichtigen. Unter dem Strich entspricht ein Vermögen von 2,9 Bio. Fr. eher der Realität in der Schweiz. Allerdings existieren für die Verteilung des neu ermittelten Vermögens noch keine Berechnungen. Mut machen Avenir Suisse jedoch Zahlen aus Deutschland, wo der Gini-Koeffizient bei der Rechenübung ohne Berücksichtigung der Rentenversicherung bei 0,8 liegt, einem Wert also, der dem der Schweiz ähnelt. Er sinkt jedoch auf 0,6, sobald die umlagefinanzierte Rentenversicherung als zentrale Einnahmequelle für die deutschen Pensionäre zum Vermögen hinzugezählt wird.