Achim H. Pollert: Der Black-Box-Wissenschaftler

  • Der Black-Box-Wissenschaftler


    Achim H. Pollert über den Umgang mit der Wissenschaft


    Die Zivilisation ist gerade einmal 6,000 Jahre alt.


    Der Mensch als biologische Art ("wir, der homo sapiens idaltu") dagegen ist mindestens 160,000 Jahre alt. Wenn wir das Zeitalter des Menschen also mit einem Tag vergleichen, dann sind wir über 23 Stunden als Jäger und Sammler in der Steppe unterwegs gewesen.


    "Beute heute" - wir waren den Naturgewalten ausgesetzt, mussten Wasser und Nahrung finden Tag für Tag. Wir glaubten an Götter und Geister, die irgendwo irgendwie hinter den Kulissen das Ganze steuerten. Wer sonst sollte auch genug Kraft haben, um die Sonne in der warmen Jahreszeit höher an den Himmel zu heben? Oder zweimal am Tag die gewaltigen Wasser des Ozeans tausend Fuss und mehr die Küsten herauf zu schieben? Oder gar den Himmel bei Regen Feuer spucken zu lassen? Und vieles mehr in dieser Art.


    Wer könnte angesichts dieser klaren Beweise im alltäglichen Leben denn noch zweifeln, dass es da eine allmächtige Kraft hinter den Kulissen gibt, die das alles steuert?


    Und weil man als vernünftiger Mensch bei solchen offensichtlich göttlichen Ereignissen ja gar keinen Zweifel haben könnten, brauchten wir den Medizinmann nicht, um uns sonderlich zu überzeugen. Vielmehr war der Medizinmann nur mit dieser Allmacht im Bunde und konnte sie günstig für uns beeinflussen. Und eben ungünstig für unsere Feinde, die andere Kleider tragen als wir, die uns das Essen auf der Wildbahn streitig machen, die in unsere Wasserbrunnen spucken und die den falschen Glauben haben.


    Und wenn unser Medizinmann oder unsere weisse Frau uns sagte, wir müssten bei Vollmond einem lebenden Rebhuhn die Kehle durchbeissen und uns mit dem ausgelaufenen Blut einreiben, um von einer bedrohlichen Krankheit geheilt zu werden, dann gab es da keinen Zweifel.


    Beschwichtigung für unsere Götter und Geister. Respekt für unseren Medizinmann. Und


    Sicherheit für mich.


    Denn so kann ich ja nichts mehr verkehrt machen.


    Ganz einfach: Ich gehe mit meinem Problem zu unserer weissen Frau. Ohne weitere Erläuterungen sagt die mir, was zu tun ist, um mich mit den Göttern gut zu stellen. Und ich mache es auf jeden Fall richtig.


    Heute, in der Zivilisation, bezeichnet man dies griffig als das "Black-Box"-Prinzip.


    Etwas eingedeutscht spricht man vom schwarzen Kasten, bei dem man eben nur weiss, welcher Input welchen Output verursacht, ohne die eigentliche Funktionsweise zu kennen. Eine beliebte Methode für technische Tests aller Art, Sicherungsverfahren u.s.w.


    Für den, sagen wir, Klienten ist das eine sehr angenehme Nummer.


    Um sicher zu sein, brauche ich nur sicher zu wissen, dass mein Medizinmann die Hintergründe kennt...


    Und dann kamen da die alten Griechen mit ihrem Höhepunkt der Zivilisation und machten das alles kaputt. Was die Heilkunde anbelangt, war da Hippokrates von Kos ein Vorreiter.


    Alle haben den Namen schon einmal gehört, und kaum jemand weiss, was für eine Rolle Hippokrates eigentlich spielt in der Medizingeschichte spielt. Nicht der viel zitierte Eid, der angeblich alle Mediziner irgendwie zu besseren Menschen macht, ist die grosse Leistung des Hippokrates von Kos.


    Vielmehr war er derjenige, der erstmals das Verhältnis von Arzt und Patient konkret formulierte. Hippokrates ging davon aus, dass der Patient eine erwachsene, eigenständige und selbstverantwortliche Persönlichkeit ist, die wissen muss, was sie mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit anfängt.


    Daneben gibt es einen Arzt.


    Der ist nun aber nicht mehr der Medizinmann, der mit dem Jenseits im Bunde ist und alles weiss, was gut für mich ist. Vielmehr ist der


    der sachkundige Berater


    der mir erschöpfend Auskunft gibt aus seinem gesichertes Wissen.


    Und nur aus diesem Wissen.


    Dies gilt inzwischen natürlich für alle Bereiche der Wissenschaft. Ich muss eine Entscheidung fällen. Der Wissenschaftler neben mir kann mir nur sachkundige Beratung geben, nicht aber


    Nachdem in der Zivilisation unser Leben - beruflich wie privat - immer wissenschaftlicher geworden ist, wird auch diese sachkundige Beratung immer wichtiger für die Entscheidungsfindung.


    Wohl gemerkt: die wirkliche, wahrhaftige Information über die wissenschaftliche Faktenlage... Die wird in zwanzig Jahren überholt sein, und dann werde ich neues Beraterwissen brauchen.


    Schwierig wird das Ganze an zwei Enden.


    Zum einen gibt es da den Wissenschaftler (sehr wohl auch den Arzt) , der sich nicht für den Berater sondern für den Medizinmann hält. Der weiss genau, was gut ist für mich. Und der hat natürlich auch die Fakten parat, um mich von dem zu überzeugen, von dem er weiss, dass es gut für mich ist.


    Der Medizinmann sagt mir, dass ich abnehmen MUSS. Der sachkundige Arzt sagt mir: Ihnen fehlt zur Zeit nichts. Dieses sind die Risiken des Rauchens...


    Der Medizinmann sagt mir, dass ich die Treibhausgase in der Atmosphäre sofort senken MUSS. Der sachkundige Physiker sagt mir: Der heutige Betrieb von AKWs birgt folgende Gefahren...


    Der Medizinmann steht eben mit den Göttern im Bunde und weiss genau, was gut für mich und schlecht für meine Feinde ist. Und wenn ich das nicht genau so befolge, dann werde ich eben einer seiner Feinde und riskiere damit die Missgunst der Götter.


    Daneben präsentiert mir der Berater die Fakten und objektiven Zusammenhänge nach dem aktuellen Stand.


    Betrachtet man die heute vielfach stattfindende Debatte rund um die heissen Themen der Zeit, dann kann man sich den Eindrucks wohl nicht erwehren, dass es zunehmend Medizinmänner und Kräuterhexen gibt, während sachkundige Wissenschaftler in der Oeffentlichkeit eher zur Ausnahme geworden sind.


    Daneben gibt es allerdings ein mindestens ebenso grosses Problem auf der anderen Seite.


    Die Erwartung


    Denn auch des Eindrucks kann man sich nicht erwehren, dass gar so viele Menschen - heute wohl ebenso wie früher - den Medizinmann im Berater suchen.


    Das fängt im Alltag an, indem vom Arzt nicht verlangt wird, sein Wissen und seine Erfahrung abzugeben und anzuwenden, sondern eben wie ein verantwortlicher Leiter und Entscheidungsträger das Ganze auf eigene Faust in Ordnung zu bringen.


    Der Architekt soll die Baumängel am Haus nicht nur feststellen, sondern rundum ganz nach Gusto sanieren.


    Und von den alltäglichen Beispielen geht diese Grundhaltung eben weiter zu den ganz grossen Dingen mit ihren folgenschweren Entscheidungen. Der Meteorologe soll die Klimakatastrophe verhindern. Der Kybernetiker soll entscheiden, ob von Zürich nach Bern eine neue Autobahn gebaut wird. Und der Kernphysiker soll organisieren, was mit radioaktiven Abfällen passiert.


    Der Wissenschaftler (oder durchaus auch der Handwerker...) als Black-Box, als Fertigpaket, das wir nur aufreissen müssen, um unsere Probleme zu lösen.


    Und so kommt es dann eben zu den Situationen, die wir alle kennen. Das grosse Schimpfen über die Nebenwirkung von Medikamenten. Die empörten Demos über den Neubau eines unterirdischen Bahnhofs. Und die gesträubten Nackenhaare über einen undichten Salzstock, der voll ist mit Atommüll.


    Dabei hätten wir ja eigentlich nur vorher den Medizinmann aus dem Tempel vertreiben und selber die Entscheidung treffen müssen.


    Irgendwie jeder von uns...



    http://www.piazza.ch/inserat/1…ig_diskret_preiswert.html

  • auf den Punkt gebracht

    Eindrücklich auf den Punkt gebracht! Diese Analyse könnte man auf alle Branchen ausdehnen, z.B. auf das Banking. Kunden erwarten von den Anlageberatern nicht nur, dass sie sie beraten und so beim Anlageentscheid unterstützen, sondern fordern eine konkrete Empfehlung oder sogar eine Entscheidung. Wenn sich die Anlage dann nicht nach dem Geschmack des Anlegers entwickelt, ist der Schuldige schon lange erkoren...