Achim H. Pollert: Am Wesentlichen vorbei

  • Am Wesentlichen vorbei




    Achim H. Pollert (*) über die Kultur der Aeusserlichkeit




    Kurt war ein Junge, und er spielte Karten mit uns anderen Jungen.


    Und ich fragte mich damals, warum Kurt mich immer mit so verschmitztem Lächeln angaffte, wenn wir an dem Stammtisch unter den hellen Lampen im Wirtshaus sassen. Seine Augen kniffen sich dann jeweils zusammen, das Grinsen machte einen schon etwas dümmlichen Eindruck, und er konnte ewig zögern, bis er eine Karte auf den Tisch legte.


    Es war die Zeit, als die Brillen mit den riesigen Gläsern in Mode waren. Und so trug auch ich ein entsprechendes Gestell im Gesicht mit grossen nicht entspiegelten Flächen.


    Es dauerte längere Zeit, bis ich überhaupt begriffen hatte, warum Kurt sich immer beim Kartenspiel so merkwürdig benahm. Er glaubte, in meinen Brillengläsern, ganz entfernt und sehr schwach, das Spiegelbild der Karten zu erkennen, die ich in der Hand hielt. Natürlich war die Spiegelung viel zu klein, als dass das Gegenüber die einzelnen Karten hätte erkennen können.


    Aber Kurt konnte eben der Versuchung nicht widerstehen.


    Unter dem Strich...


    Natürlich war das, was der Jugendliche da tat, kein Betrug und keine Falschspielerei. So ernst war diese kleine Wirtshausgeschichte bei weitem nicht. Wir spielten nicht um Geld. Wir spielten aber auch nicht darum, "wer gewinnt".


    Wir jungen Burschen spielten Karten, um uns zu vergnügen. Zum Zeitvertreib, ab und zu vielleicht auch einmal als kleine Denksportaufgabe oder Strategieübung, meist aber als Begleitung zum Saufen und Witze erzählen. Zum Amusement halt.


    Trotzdem sah das Ganze rein von aussen natürlich wie eine Art von Wettkampf aus. Man mass sich, man zählte Punkte, man verglich sich. Oft reichte die Liste der Punkte nicht bis zum Ende des Abends, so dass es vielfach nicht einmal so etwas wie einen Tagessieger gab.


    Trotzdem konnte Kurt nicht widerstehen.


    Er wollte in meiner Brille erkennen, was für ein Blatt ich auf der Hand hatte, damit er möglichst viele Punkte machen könnte. Dann wäre er der Sieger in einem Zeitvertreib, der wie ein Wettkampf aussah. Sinn hätte das alles allerdings nur gemacht, wenn es wirklich ein Wettkampf gewesen wäre. Dann wäre es allerdings Betrug gewesen.


    Kurt brachte sich mit diesem Verhalten um alles, was ein Spiel ihm überhaupt hätte bieten können. Weder konnte er sich so einen Spielgewinn erschleichen, da ja nicht um Geld gespielt wurde. Noch konnte er sich den Ruf des geschickten Strategen und Spielers einhandeln, da er ja nicht schlau spielte sondern gaunerhaft manipulieren wollte. Noch verschaffte er sich selber nachhaltig Vergnügen, denn sehr bald schon wollten wir andere mit Kurt nicht mehr spielen.


    Unter dem Strich also wäre Kurt deutlich besser gefahren, wenn er sich selber etwas mehr mit den Hintergründen des Ganzen befasst hätte.


    Aeusserlichkeit als Geisteshaltung


    Kein aussergewöhnliches Ereignis.


    Aber was verleitet Menschen dazu, sich so seltsam, so absurd widersinnig, so kontraproduktiv und nicht nachvollziehbar zu verhalten?


    Es ist hier, wo der Begriff der Fixierung auf die Aeusserlichkeit ins Spiel kommt.


    Gewiss, man kennt diesen Begriff als solchen. Doch wenn man sich nicht wirklich eingehend damit befasst hat, kann man meist nicht allzu viel damit anfangen.


    Viele, gar zu viele Menschen neigen dazu, sich auf den äusseren Anschein zu fixieren. Jeder von uns, die wir alle in der Welt der bunten Bildchen und der Sprüchemacherei aufgewachsen sind, läuft Gefahr, immer wieder die Dinge äusserlich zu beurteilen.


    Und so ist jeder von uns auch gehalten, das eigene Urteil, das eigene Verhalten und die eigene Fixierung selber stets kritisch im Auge zu behalten. Fällt uns zu Helmut Kohl noch etwas anderes ein, als dass er sehr gross und sehr dick war und dass er mit einem komischen Akzent sprach? Wurde Angela Merkel eine bessere Politikerin, als sie ihre Frisur hat stylen lassen? Wird ein Aussenminister auch nur eine Spur sympathischer oder kompetenter, weil er 20 Kilo abnimmt? Verdient eine Kindsmörderin unser besonderes Mitgefühl, weil sie die Mutter ihrer Opfer ist?


    In all dem steckt viel Aeusserlichkeit. Das mag noch recht offensichtlich sein, wenn wir einen Menschen in erster Linie nach seiner äusseren Erscheinung begutachten. Aber viel Aeusserlichkeit steckt auch in der Vermutung, eine Mörderin würde besonders unter ihrer eigenen Tat leiden, weil bei ihr aussen "Mutter" drauf steht.


    Ist es irgendwie moralisch verwerflich, essbares Brot mangels Appetit wegzuwerfen? Auch diese Frage trieft förmlich vor Aeusserlichkeit. Denn sie vermengt einerseits die tiefere, symbolische Bedeutung des Wortes "Brot" mit dem blossen äusserlichen Begriff. Im biblischen Sinn heisst Brot so viel wie die Gesamtheit des "Lebensunterhalts". In dem Begriff streckt die Vorstellung von göttlicher Gnade und somit auch etwas von Heiligkeit (im Sinne von Unantastbarkeit).


    Da besteht wohl auch die Gefahr, dass dieser tiefere symbolische Begriff mit der rein äusserlichen Bedeutung des Wortes (nämlich "gebackener Getreidebrei") verwechselt wird. Und wer sich nun mentalitätsmässig rein nur in der Aeusserlichkeit des Lebens aufhält, kommt dann nicht selten zum Schluss, dass alle, die diesen gebackenen Getreidebrei wegwerfen, sich gegen die göttliche Schöpfung versündigen.


    Wohlgemerkt geht es dann in aller Regel nicht um Fleisch, nicht um Milchprodukte, nicht um Gemüse, auch nicht um Vitamintabletten oder lebenswichtige Medikamente. Sondern eben nur um gebackenen Getreidebrei, weil nur der mit dem Wort "Brot" im äusserlichen Sinne bezeichnet wird.


    Wer so reagiert, lebt in der Welt der Aeusserlichkeit.


    Für solche Menschen - vom TV-Moderator bis hin zum Soziologieprofessor - ist bei allen Dingen und Menschen massgebend das, was aussen draufsteht, und nicht das, was sich als Inhalt drinnen befindet.


    So konnte beispielsweise allen Ernstes öffentlich in den Massenmedien diskutiert werden, ob ein Bauer, der seinen Brotweizen in der Zentralheizung verfeuert, weil das Erdöl teuerer ist als der Verkaufserlös des Weizens, damit ethisch verwerflich handelt.


    Das Wesentliche


    Tatsächlich beruht diese Kultur der Aeusserlichkeit auf dem Prinzip der permanenten Situationsverkennung. Denn weitgehend alle solche äusserlichen Einschätzungen gehen am Wesentlichen vorbei.


    Ein Buch ist nicht einfach ein Stapel Papier. Ebensowenig wie ein PC ein Gehäuse ist, das einen Brummton von sich gibt. Und die Mona Lisa ist nicht einfach eine Holzplatte mit Farbe darauf verteilt.


    Die Reihe solcher Beschreibungen lässt sich beliebig fortsetzen. Und durchaus immer mal wieder wird einem dergleichen auch aufgetischt. So etwa erinnere ich mich daran, wie mir als Kind ein Erwachsener erklärte, was ein Fotokopiergerät ist: "Ein Kasten mit einer Glasplatte oben drauf. Unter der Platte läuft ein Licht entlang."


    Zwar mögen sie - rein äusserlich eben - die Tatsachen durchaus nicht wahrheitswidrig darlegen. Aber allen diesen Beschreibungen ist gemeinsam, dass sie am Wesentlichen vorbeigehen. Möglicherweise beschreiben sie einen tatsächlichen Aspekt der Sache (oder auch einer Person), der aber völlig irrelevant ist.


    Heimtückisch daran ist allzu oft natürlich, dass der irrelevante Aspekt ja trotzdem vorhanden ist und somit auch von jedem gesehen werden kann. Und das wiederum führt - nicht nur bei einfachen Gemütern - oft dazu, dass sich der äusserliche, völlig unerhebliche Aspekt durchaus zu bestätigen scheint. Aus der Geschichte wissen wir ja, dass es deshalb zum Beispiel ausgesprochen schwierig war, eine breitere Oeffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Sonne nicht um die Erde kreist. Immerhin sieht es ganz offensichtlich so aus.


    Die Kultur der Aeusserlichkeit führt nun dazu, dass bei der Beurteilung von Zusammenhängen solche irrelevanten Aspekte in den Vordergrund rücken.


    Im Geschäftsleben, in der Politik, in der Wissenschaft.


    Aber durchaus auch im privaten Bereich wie etwa dem Zusammenleben mit dem Geschlechtspartner. Oder bei der Religionsausübung.


    Wenn die Frage, ob jemand ein guter Mensch ist, sich erschöpft in der Feststellung, wie oft jemand zur Messe geht, ob er regelmässig beichtet, Geschlechtsverkehr nur ungeschützt praktiziert, ob er die Fastengebote einhält und ob er die Hostie als den wahrhaftigen heiligen Leib Christi behandelt, dann handelt es sich dabei schlussendlich wohl auch um die rein äusserlichen Faktoren. Dergleichen kann von jeder Kindsmörderin ebenso wie von jedem Kriegsverbrecher praktiziert werden.


    Das Wesentliche an aller Religion liegt dagegen wohl vielmehr darin, dass sie den Einzelnen auffordert, ein anständiger Mensch zu sein. Und man würde sich selber in die Tasche lügen mit der Vorstellung, man könnte sich um die Anständigkeit drücken, indem man fleissig das Aeussere praktiziert. Das wäre auch ein merkwürdiger Gott, der so mit sich handeln liesse.


    Nichtsdestoweniger rückt eben diese Aeusserlichkeit - und das gar nicht nur bei Christen - bei Heerscharen von einfachen Gemütern dazu, wohl höchst peinlich auf das Förmliche zu achten, am eigentlichen Glaubensinhalt aber kaum Interesse zu zeigen.


    Am Wesentlichen vorbei, wie gesagt. Und keineswegs nur, was die Religion betrifft, wie gesagt.


    Möglicherweise ist es somit auch kein Zufall, dass im Zuge der vergangenen Jahrzehnte der Eindruck entstanden ist, in vielen Religionen und Konfessionen habe der Fundamentalismus als Betonung des Aeusserlichen durchaus zugenommen.


    Wo die Schäden lauern


    Ob nun der eine oder andere Simpel sein Leben an der Aeusserlichkeit ausrichtet und somit das Wesentliche daran verpasst, gehört möglicherweise zu seiner persönlichen Freiheit - und geht uns alle damit nichts an. Ebenso ob jemand beispielsweise über einen Komiker lacht, nicht weil der wirklich Lustiges erzählt, sondern weil er einen ausgeprägteren Dialekt spricht.


    Schwierig und schädlich für alle wird diese Orientierung, wenn sie wichtige Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft erfasst.


    Schäden lauern dort, wo äusserliche Situationsverkennungen so lange nachgeplappert werden, bis alle sie für wahr halten. Wie zum Beispiel die irrige Meinung, die Schweiz verdanke den Erfolg ihrer Finanzwirtschaft dem Bankgeheimnis. Oder auch die Vorstellung, Frauen könnten nicht richtig einparken und Männer nicht zuhören. Und auch kann man sich den Eindrucks nicht erwehren, dass altersmässig fortgeschrittene Menschen Mühe haben, einen Job zu finden, weil alle das glauben, dass Aeltere nicht mehr angestellt werden.


    Schäden lauern dort, wo öffentlich geführte politische Diskussionen massiv äusserliche Aspekte erfassen und in erschreckendem Ausmass am Kern der Sache vorbeigehen. So etwa hörte man seinerzeit wohl etwas von angeblichen ethischen Aspekten beim Bauern und seinem Brotweizen. Ob Weizen allerdings ernsthaft als Ersatz für Oel oder Gas geeignet ist, wenn man nun nicht gerade als Produzent etwas zu viel davon hat, davon hörte man kaum etwas.


    Schäden lauern dort, wo Positionen nicht danach besetzt werden, ob jemand die betreffenden Funktion wirklich beherrscht, sondern danach, ob jemand den betreffenden Ausbildungsabschluss absolviert hat. Das gilt für pfuschende Handwerksmeister ebenso wie für inkompetente Juristen, Aerzte oder Betriebswirtschaftler.


    Schäden lauern dort, wo äusserliche Begriffe mit nicht näher präzisierten Inhalten gefühlsmässig verbunden werden. So hat sich bei Ausdrücken wie "Genetik", "Atom", "Chemie" der äussere Begriff verselbständigt, der dem Gros der Menschen zwar etwas Bedrohliches signalisiert, während konkrete Inhalte kaum jemandem bewusst sind.


    Schäden lauern dort, wo grosse Bevölkerungsteile daran gewöhnt werden, andere auf Grund von Aeusserlichkeiten zu begutachten. Wenn grössere Zahlen von Menschen etwa weniger Anteil nehmen an den übermittelten Nachrichten und mehr an der neuen Frisur der Nachrichtenmoderatorin. Wenn etwa ein Serienschauspieler, der einen Chefarzt darstellt, im Privatleben häufiger um medizinischen Rat angegangen wird.


    Die Schäden bei dieser Fixierung auf die Aeusserlichkeit ergeben sich eben daraus, dass man am Wesentlichen vorbei keine Probleme lösen kann.


    Möglicherweise ein Grund, warum so manche vermeintliche politische oder wirtschaftliche Problemlösung nicht mehr greifen will.


    Möglicherweise für jeden Einzelnen von uns ein Grund, künftig mehr auf das Wesentliche und weniger auf das Aeusserliche im Leben zu achten.


    (*) Achim H. Pollert ist freier Journalist, Ghostwriter und Fachautor

    ... "Schreiben Sie geil?" - unter diesem Titel ist unlängst ein Leitfaden "für sauberes Deutsch in der Praxis" von Achim H. Pollert erschienen. Zu beziehen im Buchhandel oder unter:

    http://www.bams.ch/pollert/default.html