Edi hat geschrieben, "gewiefte Charttechniker" hätten den Absturz voraussagen können. Konnte man das?
Aus meiner Sicht nein, zumindest nicht in diesem Ausmass. Aber ein Short-Setup war bereits vor über einer Woche gegeben.
Besonders gewieft musste man dabei gar nicht sein! Ich habe mit Puts im Jahr 2003 viel Geld verloren und seither die Finger von Puts gelassen (ausser kleines Intradaygeplänkel) und mich statt dessen auf Gold (+Minen) konzentriert.
Aber am 11. Mai bin ich zum ersten mal seit Jahren wieder short gegangen. und zwar volle Kanne, die ganze Palette: Dow, Nasdaq, DAX und SMI.
Warum? Gucken wir den Chart mal aus Sicht von damals an (ich habe alles nach dem 10. Mai rausgelöscht):
[Blockierte Grafik: http://board.cash.ch/bb/files/smi_may11_206.png]
Man beachte zunächst mal den MACD unterhalb des Charts: Was fällt auf? Der MACD hat zwar immer noch seine Aufs- und Abs. In der Gesamtheit jedoch ist die Kurve am fallen. Das nennt sich bärische Divergenz. In einfachen Worten ausgedrückt bedeutet nichts anderes als dass der Schwung, die Kraft der Hausse nachlässt.
Solange wir dabei beim Kurs des SMI jeweils höhere Tiefs und höhere Hochs haben, ist dies nichts weiter als ein Warnsignal aber noch kein Short-Setup. Ich selbst habe ja hier am 23. April noch geschrieben, ein "Sell in May" werde es nicht geben, ABB werde auf 16.80 absacken und dann auf 20 drehen. Insofern also eine grobe Fehleinschätzung meinerseits. Und dennoch war ich am 11. Mai auf der richtigen Seite.
Warum?
Ich halte es für lebenswichtig - und das ist eine der Messages, die ich mit diesem Posting rüberbringen möchte - dass man nicht stur an seiner Einschätzung von gestern festhält sondern flexibel auf den Markt reagiert. Oder um es mit Konrad Adenauer auszudrücken: "Was interessiert mich der Scheiss, den ich gestern erzählt habe."
Zurück zum Chart vom 10. Mai.
Wir wissen, dass sich alle Trader am 10. Mai exakt diesen Chart angeschaut haben. Und alle sehen dasselbe: Eine bärische Divergenz im MACD. Also haben alle mal grundsätzlich den Finger in der Nähe des Sell-Buttons.
Was sehen wir weiter? Wir sehen ein Tripple-Top bei etwas über 8100 Punkten!
Bei den vorangegangenen Tops hatten wir jeweils höhere Tops. Im Dezember bei 7650, im Januar bei 7840, Ende Februar bei 8050. Im Januar musste man sich keine Sorgen machen, wenn der SMI von seinem Hoch von 7840 abrauschte. Der Bullenmarkt war ja noch in Ordnung. Verunsicherte Bullen dürften ein Stop-Loss bei etwa 7580 (der blauen MA50) plaziert haben. Trader sind vielleicht mit Ziel 7600 short gegangen und Langfristanleger sind ohnehin drin geblieben. Anlass zur Sorge gab es damals aber noch nicht.
Ein kleines Warnsignal kam im März. Das März-Hoch war nur noch einen Hauch über dem Februar-Hoch, das erste April-Hoch nur noch einen Hauch über dem März-Hoch. Dann das erste Doppel-Top Ende April. Kein neues Hoch mehr. Hat die Börse keine Kraft mehr?
Ein neuer Versuch im Mai. Am 10. Mai der bange Moment für Bullen und Bären: Wird das Doppeltop vom April überboten? Wenn ja, geht die Reise nach Norden weiter. Wenn nein, haben wir ein bestätigtes Top im mittel- und langfristigen Rahmen.
Nochmals zurück zur Psychologie der Trader und der Charttechnik: Tausende von Investoren, Fonds-Managern und Kleinanlegern haben sich dieses Chart betrachtet. Sie haben die GD50, den MACD und die SlowStoch angeschaut. Sie haben die bärische Divergenz erkannt. Sie haben wie die Schlange auf's Kaninchen geschaut, ob ein neues Hoch kommt oder nicht. Kaufsignal oder Verkaufssignal. Jeder wusste, dass die Tage nach dem 10. Mai eine Entscheidung bringen mussten. Der Finger rückt bereits etwas näher zum Sell-Button.
Am 11. Mai kam dann die Antwort: Nein, der SMI hat's nicht geschafft, ein neues Hoch zu generieren. Also Verkaufen!
Die Anzahl der Sell-Buttons, die gedrückt wurden, ist in etwa abschätzbar. Am 11. Mai sackte der SMI um gut 100 Punkte ab und durchschlug die als Unterstützung gedachte blaue MA50 wie Butter!
Bärenfalle? Der nächste Tag liefert bereits die Bestätigung: Die nächste Unterstützung, die MA100 wird ebenfalls mühelos gebrochen. Wer's bis jetzt noch nicht gemerkt hat, steigt spätestens jetzt aus.
Und wie weiter? Die nächste grosse Unterstützung ist die MA200 und die liegt bei 7450.
Hält die MA200? Wenn ja, ist der Bullenmarkt zumindest langfristig noch in Ordnung. Wenn nicht, wechseln wir in den Bärenmarkt-Modus.
Werden wir überhaupt die 7450 erreichen?
Hans meinte vorgestern hierzu:
"..erzähl keinen Quatsch von wegen 74xx ... !"
Quelle: http://forum.cash.ch/~Board3/read?131165,7
Aber ist es wirklich Quatsch?
Ich konnte, wie eingangs erwähnt den Absturz in seiner Heftigkeit auch nicht voraussehen. Aber ich wusste, dass ich am Hoch mit relativ bescheidenem Risiko einen Short eingehen kann mit Ziel von etwa 7980.
Hätte es ein neues Hoch gegeben, wäre ich mit Verlust von etwa 20 Punkten ausgestoppt worden. Andernfalls winkt ein Gewinn von 100 Punkten. Im Future-Handel ein gutes Preis/Risiko-Verhältnis. Dass der SMI so gnadenlos durch alle Widerstände nach unten durchgeknallt ist, hat mich aber (fast) genau so überrascht, wie jeden von Euch.
Ich will niemandem vorschreiben, welche Erkenntnisse er aus diesem unerwarteten Absturz ziehen will aber ich persönlich sehe zwei wichtige Aspekte:
Zum einen - wie oben schon erwähnt - die eigene Psychologie. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass ich bullisch für SMI, Newmont Minint, ECEN, Quadrant oder ABB bin (oder bärisch). Aber ich muss damit rechnen, dass ich in meiner Einschätzung falsch liege und mir einen Ausstiegspunkt definieren.
Erfahrene Trader - und damit käme ich zum zweiten Punkt - tun dies. Dabei nehmen sie die Charttechnik zu Hilfe. Wahrscheinlich haben viele Trader ihre eigene Charttechnik entwickelt. Ich selbst habe auch ein paar Jahre mit diversen Mischungen aus Indikatoren rumexperimentiert. Herausgekommen ist, dass die klassischen Indikatoren wie GD, MACD und Slow Stoch die zuverlässigsten sind.
Warum? Weil sie von den meisten Tradern beachtet werden.
Und jetzt können wir beide Punkte kombinieren: Wenn wir die Charttechnik einigermassen kennen, dann wissen wir, an welchen Punkten die Mehrzahl der Profis kauft oder verkauft.
Als da wären:
* Durchbrechen einer GD (50, 200)
* Klassische Top- und Bodenbildung (Doppel- oder Tripple- Bottom/Top)
* Wendepunkte in MACD und SlowStoch.
Die meisten Trader setzen z.B. ihre bullischen Stop-Losses knapp unterhalb der nächsten GD; oder die bärischen knapp oberhalb des letzten Tops.
Wissen wir also, wo diese Limit-Entries und Stop-Losses sitzen, dann können wir davon ausgehen, dass ein Durchbruch dieser Punkte zu einem Kauf- bzw. Verkaufsrausch führt.
Dabei lassen wir es einfach mal dahingestellt, ob dieser Rausch fundamental gerechtfertigt ist oder nicht.
Wir können uns nun den Profis anschliessen, diese Marken akzeptieren und entsprechend die Positionen in die jeweils richtige Richtung drehen oder (falls wir diese Marken nicht erkennen oder erkennen wollen) auf stur schalten, mit Unverständnis dem Geschehen hinterhergucken und Durchhalteparolen verbreiten.
Welchen Weg jeder für sich uns seine Trading-Entscheide gehen will, muss der betreffende selbst wissen. Eigene Fehler sofort zu erkennen und entsprechend zu reagieren ist psychologisch schmerzhaft aber finanziell lukrativ.
Somit muss jeder für sich die Frage beantworten, was er an der Börse eigentlich will: Geld verdienen oder Ego-Trip?
Marcus
---
Hier zum Vergleich noch der unverfälschte SMI-Chart inkl. Absturz
[Blockierte Grafik: http://board.cash.ch/bb/files/smi_979.png]